Ein Ort für Botschaften Im alten „Dschungel“ am Winterfeldtplatz wurde eine neue Art der Öffentlichkeit zelebriert
Am Schöneberger Winterfeldtplatz traf sich allabendlich in einer Eckkneipe, die den Namen „Dschungel“ verpasst bekam, in den späten 1970er Jahren eine bunte Mischung aus Freaks, Jungkünstlern, Punks, linken Studenten, bewegten Frauen und Männern, Transsexuellen vom Strich am Nollendorfplatz, Kleinkriminellen und Zuhältern. Auf ganz zauberhafte Weise kam sich diese Kundschaft hier aber nie in die Quere. Nur selten gab es Schlägereien. Man war ja gnadenlos jung, wollte anders und ohne Vorurteile sein. Selbst verlumpte, schrill aussehende und androgyne Gestalten konnten sich hier relativ gefahrlos bewegen. Gerade sie stellten die alternativ eingestellten Gäste, die nach Grenzerfahrungen lechzten, immer auf eine harte Probe. Auch die arabischen Jungs, die sich fast immer im Billardraum aufhielten, blieben friedlich und nahmen deren teilweise grelle Aufmachung gelassen hin. Dass sich schon im alten „Dschungel“ Menschen mit nicht „normalen“ sexuellen Orientierungen ganz unbehelligt bewegen konnten, war eine neue Qualität, die noch nicht selbstverständlich war. Gerade an den queers maß sich der Grad der Offenheit und Toleranzbereitschaft der damaligen Szene. Der „Dschungel“ war ein einzigartiges Konglomerat verschiedenster Kulturen und Typen. Er bot allen, die außerhalb der verachteten Subkultur („Sub“) ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen wollten, eine ideale Bühne zur sanktionsfreien Selbstdarstellung im öffentlichen Raum – ohne Plüsch und Wolkenstores. „Hier wurde Kraftwerk gespielt, Reggae und ab 1977 die ersten Punk-Platten. Jeder fühlte sich als Künstler, als Star“, erinnert sich Tourmanager Jäckie Hildisch. „Ich gehörte zu den Jüngeren und dachte, dass ich nie so cool werden würde wie die anderen. Cool, das war Verklärtheit, Unfreundlichkeit, Arroganz, Zugeschnürtheit, ein bisschen Wagnis.“ (aus der Modezeitschrift „Liebling“, 2008)
Hervorgegangen war der „Dschungel“ aus einer Gaststätte namens „Tönnchen“, die Barbara Brandt und Todora Osikowski Mitte der 1970er Jahre übernommen hatten, um daraus eine Szene-Kneipe zu machen. Das muffige, abgewetzte Kneipeninventar kam auf den Sperrmüll, um viel Platz zum Stehen und Sehen zu schaffen. Die Wände wurden lachsfarben lackiert und mit hellen Wandstrahlern versehen, die Ecken und Wandborde mit Palmen dekoriert. Es gab nur wenige Tische und Stühle, dafür eine Unmenge an hölzernen Barhockern. Blickfang und beliebter Sitzplatz war eine ausgediente Jahrmarktsgondel, von der aus man einen verträumten Blick auf den noch unsanierten Winterfeldtplatz hatte. Gegenüber befand sich versteckt die Kneipe „Ruine“, wo per se dem Alkoholkonsum gefrönt wurde. Im „Dschungel“ dagegen hatte man immer das beruhigende Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein. Hier war man kein bloßer Alki, sondern etwas Besonderes, ein mit Kunst umhauchtes Wesen, jemand der eine persönliche Botschaft mitbrachte. Die verbliebene Fototapete mit Szenen aus Disney’s „Dschungelbuch“, gab dem namenlosen Treffpunkt schließlich seinen Namen, der aber so nie außen angebracht war. „Geöffnet von 20 – 4 Uhr“ stand da nur lapidar. Durch die großen Fenster konnte man schon von Weitem dem bunten Treiben im Lokal entgegensehen, sofern dies die Rauchschwaden und das Kondenswasser an den Fensterscheiben überhaupt noch zuließen. Gardinen gab es dort natürlich nicht. „Es war immer irgendwie zugig und kalt. Ich seh’ mich da noch im schweren Wintermantel stehen, mit einem Getränk in der Hand und neben mir die künstliche Palme. Und in der Palme ein künstlicher Affe“, so die Erinnerung der Modemacherin Claudia Skoda. („Liebling“, 2008) Neben dem allabendlichen Meeting der Schöneberger Szene blieben auch die Spontan-Besuche von damaligen Stars unvergessen. Unter anderen schauten die Musiker David Bowie und Iggy Pop öfters vorbei, die Star-Entertainerin Romy Haag und der berühmte französische Philosoph Michel Foucault unterhielten sich zwanglos im Stehen mitten im Gewühl. Die versammelten Gäste nahmen das mit gleichgültiger Genugtuung zur Kenntnis. Alle künstlerisch Inspirierten von damals fühlten sich irgendwie ja auch wie „Helden für einen Tag“, was sie aber nicht gerne zugaben. Sie schöpften ohnehin aus dem Geist der 1920er Jahre und dem Flair von Bob Fosses Film „Cabaret“ mit Liza Minnelli und Michael York. Die Romanvorlage des Autors Christopher Isherwood war schließlich gleich um die Ecke, in seiner Wohnung an der Nollendorfstraße 17, entstanden. Die Dreharbeiten zu „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ von David Hemmings fanden Ende der 1970er statt, und David Bowie produzierte in Berlin „Heroes“ und „Low“, die im „Dschungel“ sofort auf dem Plattenteller lagen und wie alle neuen LPs immer voll durchgespielt wurden. DJs gab es noch nicht.
„Autos runter vom Markt!“, brüllte zweimal in der Woche um drei Uhr nachts der dicke Marktaufseher in das noch voll besetzte Lokal, wenn draußen die ersten Marktleute kamen, um ihre Stände aufzubauen. Es war aber immer noch genug Zeit für eine Zigarette, einen Tequila, ein Bier oder einen Southern Comfort mit Ginger Ale. Nüchtern und fahrtüchtig war hier sowieso keiner mehr. Da die Betreiberinnen einer Pachterhöhung nicht zustimmen wollten und ehrgeizigere Pläne in der Luft lagen, schloss der „Dschungel“ am 30. Juni 1978 mit einem Riesenfeuerwerk auf dem Winterfeldtplatz und öffnete einige Monate später wieder als Edeldiskothek an der Nürnberger Straße, wo ein neues Kapitel Berliner Gastronomiegeschichte geschrieben wurde. Im Ur-Dschungel zog später das „Slumberland“ ein. (Text: Walter Schörling, Fotos: Esther Colton)
Dieser Film von Peter Müller entstand am letzten Tag im "Dschungel" am Winterfeldtplatz. Er dokumentiert mit Einzelbildautomatik eine ganze Nacht von abends bis zum Morgengrauen.