„California Cuisine“ – Die Perpetuierung einer Idee
Das Restaurant „Dschungel“ sollte ein Esstempel mit neuer deutscher und internationaler Küche werden, geschmacklicher Vorreiter im Ambiente einer jetzt von Tageslicht und frischen Farben erhellten, durchgestylten ehemaligen Nachtinstitution. Passend zum anvisierten Publikum, das kreativ aufgestellt war, aber die Karriere fest im Blick hatte, waren die Speisen geplant. Neben klassisch italienischen und anderen internationalen Gerichten sollten leichte, bekömmliche Trendspeisen, vornehmlich aus regionalen Produkten, auf die Karte. Ebenso leicht wie die Küche stellte sich die Chefin die Musikuntermalung vor, die nicht weiter störte und nur der Verdauung zuträglich war. Denn dort, wo einst der DJ regierte, war eine offen einsehbare Küche geplant. Ganz so wollte sich ein anderer Mitinhaber aber noch nicht aus der Nacht verabschieden und brachte die verschärfte Variante eines „Dine & Dance“-Restaurants ins Spiel – mit DJ-Auftritt nach dem Dinner, Tanz und Cocktails. Der dritte Mitinhaber wollte auch kein tradiertes Restaurantkonzept und war für die Idee einer auf Berlin übertragenen Adaption der sogenannten „California Cuisine“ entflammt. Das war „fine dining“ von bunten Tellern mit überraschenden Kreationen aus frischen, regionalen Produkten und internationalen Spezialitäten mit viel asiatischem Flair, zügig und ganz ohne die Rituale von Gourmet-Restaurants serviert.
Auf einer Reise durch Kalifornien im Sommer 1993 wurden einige dieser Gedanken konkreter, aber auch die Unterschiede zu Berlin deutlich. Das kalifornische Klima, die Vielfalt von exotischen landwirtschaftlichen Produkten und Weinen sowie eine gesundheitsbewusste, multikulturelle Klientel waren dort die Basis für ein erfolgreiches Konzept. Frische saisonale und biologisch angebaute Produkte sind die Zutaten der „California Cuisine“. Die direkte Lage am Meer, die Nähe zu Mexiko und traditionelle Verbindungen zum asiatischen Raum geben dieser Küche besondere, überraschende Geschmacksnoten und Ideen für immer neue Kombinationen. Die berühmte „California Roll“ – ein japanisches Sushi mit Avocado – ist ein perfektes Beispiel dafür. Alice Waters war die Erfinderin dieser neuen Bewegung. Ihr Restaurant „Chez Panisse“ in Berkeley gilt seit den 1970er Jahren als Ausgangspunkt, und das Restaurant „Spago“ des Österreichers Wolfgang Puck in L. A. als Ort, wo die kalifornische Küche auf höchstem Niveau interpretiert wird. Bei den Oscar-Verleihungen ist Puck stets als Caterer fest gebucht.
Die besondere Lage Berlins, das Klima, die Menschen und das neue Brandenburger Umland erforderten weitreichende Kompromisse. Eins zu eins waren die sonnendurchfluteten Rezepte Kaliforniens nicht zu übernehmen. Es fehlten hier die notwendigen Zutaten und das gute Wetter. Aber sie inspirierten dazu, die hergebrachten Angebote wenigstens mit Speisen im „California Style“ zu ergänzen. Der „Jahreszeitensalat mit Geflügelspießen in Erdnusssauce“ und der „Boston Seafood Chowder“ sind Beispiele dafür und fanden sich neben europäischen Klassikern wie dem „Kalbsschnitzel Milanese mit Rucola“ oder dem „Entrecote Bearnaise mit Pommes frites und Salat“ bei den abendlichen Standards. Verschiedene Küchenchefs gaben den wechselnden Lunch- und Abendkarten im laufenden Betrieb ihre individuelle Note. Neben Suppe und Salaten waren mittags auch „Matjesfilets mit Sauerrahm und Bratkartoffeln“ und „Szegediner Gulasch“ im Angebot. Ebenso gehörte der Verzehr von „Beelitzer Spargel“ und „Brandenburger Landente mit Rotkohl und Bamberger Hörnchen“ am Abend bereits wieder zum neo-konservativen Ritual, mit dem betuchte, eingefleischte West-Berliner den neuen Regionalbezug zelebrierten. Im Umland waren die wenigsten von ihnen gewesen und wenn, dann sah man ihnen das Grausen darüber im Gesicht an. Der anfänglichen Aufbruchsstimmung versetzte diese Entwicklung einen gehörigen Dämpfer. Trotz eines schönen, neuen Kleides und ambitionierter moderner Küche konnte der „Dschungel“ als Restaurant wirtschaftlich nicht überleben. Nach nur zwei Jahren tapferen Aushaltens mussten die Türen wieder geschlossen werden – nun für immer.